Sinn und Unsinn von Mathematik in der Naturwissenschaft / Physik

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JayEl
Gelöschter Benutzer

Sinn und Unsinn von Mathematik in der Naturwissenschaft / Physik

von JayEl am 24.02.2012 15:17

Diese Frage taucht in einigen Diskussionen hier im Forum auf. Ich möchte dies getrennt von allen konkreten Überlegungen mal diskutieren. Ich möchte meine Gedanken schrittweise darstellen:

1. Physik hat wie jede Erkenntnistätigkeit die Kenntnis ihres Gegenstandes / ihrer Gegenstände, also der Erkenntnisobjekte, zur Grundlage. Voraussetzung und Anlass für physikalische Erklärungen sind also Beobachtungen von Phänomenen, die nicht selbsterklärend sind.

2. Beim Beobachten kann es sein, dass gewisse Phänomene in (immer) gleichen Verhältnissen auftreten. Diese Verhältnisse kann ich sowohl sprachlich als auch mathematisch exakt beschreiben. (Der Vorteil der mathematischen Darstellung ist die einfache Handhabe für technische Anwendungen.)

3. Das Beobachten von fixen Relationen bestimmter Phänomene ist nicht gleichbedeutend damit, dass das eine das andere verursacht, befördert o. Ä. Wenn in einem Sommer die Mordrate und der Konsum von Erdbeereis steigen, dann muss das Erdbeereis nicht aggressiv machen oder vergiftet worden sein. Es kann auch einfach ein Zufall gewesen sein. Oder aber es gibt einen ganz anderen Grund. Eine  Bande von Killern hat zur Tarnung eine Erdbeer-Eis-Kette aufgemacht.
All diese - weit hergeohlten - Beispiele sollen nur bebildern: Die Beobachtung eines Verhältnisses ist nicht das Gleiche wie die Erklärung des Verhältnisses.

4. Während unter Punkt 2. die Mathematik sicherlich ihr Recht hat, so kann sie für den 3. Punkt zum Verhängnis werden. Nämlich dann, wenn die Verhältnisbeziehung als Erklärung behandelt wird.
a) Man kann sich das an der modernen Physik verdeutlichen. Wenn bei der Berechnung von gängigen Formeln = Verhältnisbestimmungen schwarze Löcher, Zeitreisen usw. herauskommen, dann ist es mitnichten so, dass es diese geben muss. Bloß weil gewisse Verhältnisse richtig durch diese Formeln ausgedrückt sind, können die Formeln kein Beweis für bisher nicht beobachtete Phänomene sein. Um nicht missverstanden zu werden: Es ist durchaus möglich, dass man unbekannte Verhältnisse oder Objekte zuerst auf Grundlage bestehender Verhältnisse errechnet hat und diese erst danach in der Realität findet. Aber die Rechnung für sich ist niemals der Beweis dafür, dass es diese Objekte gibt. Das wäre so als würde man behaupten: "Weil die Erde in der Entfernung von x km mit der Geschwindigkeite von x km/s um die Sonne kreist, gibt es schwarze Löcher." Der hier angeführte Grund ist für sich nicht der Grund - für die behauptete Tatsache.
b) Kommt man bei Berechnungen zu einem überraschenden, unfassbaren, unlogischen Ergebnis, bin ich der Meinung, dass man dieses schon überprüfen sollte: Gibt es diese errechneten Objekte, gibt es diese Verhältnisse. Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass absurde Konsequenzen eher darauf abzielen, dass man entweder das Verhältnis falsch bestimmt hat oder die Formeln falsch, d. h. auf unpassende Sachverhalte, angewendet hat.

5. Mathematische Formeln und Verhältnisbestimmungen haben ihren Platz in der Physik, insbesondere für die technische Anwendung. Sie sind aber nicht, wie oft behauptet wird, die exaktere Darstellung oder harte Wissenschaft im Gegensatz zum Geschwafel der Worte. Wenn man sich nicht klar macht, welche inhaltliche Bedeutung eine mathematisch-abstrakte Darstellung hat, d. h. welche qualitative Aussage rein quantitativ dargestellt wird, dann unterscheidet man eben auch nicht mehr zwischen Planetenbahnen, Eiern, die vom Tisch fallen, und Betrunkenen, die herumtokeln. Das Verhältnis ist also das: Physik ist die Erklärung der logischen Zusammenhänge von beobachteten Phänomenen von Objekten, wobei die Verhältnisse durchaus als quantitative Verhältnisse dargestellt werden können, ihre Erklärung aber nicht mathematisch dargestellt werden kann.

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Raphael
Administrator

45, Männlich

Beiträge: 243

Re: Sinn und Unsinn von Mathematik in der Naturwissenschaft / Physik

von Raphael am 26.02.2012 09:04

Guter, klarer, nachvollziehbarer Beitrag. Ich stimme größtenteils überein, möchte nur einige kleine Anmerkungen machen.

Kommt man bei Berechnungen zu einem überraschenden, unfassbaren, unlogischen Ergebnis, bin ich der Meinung, dass man dieses schon überprüfen sollte...

Wenn bei Berechnungen, also mathematischen Operationen, ein (innerhalb der Mathematik) unlogisches Ergebnis herauskommt, bedeutet das einfach ein falsches Ergebnis. Man weiß sofort, daß ein Fehler beim Ausrechnen begangen wurde. 2 + 4 = 7. Das ist ein falsches, der Logik der Mathematik nicht entsprechendes Ergebnis.

Gefährlich unlogisch kann es nur werden, wenn das errechnete Ergebnis oder der Rechenweg (ob richtig oder falsch spielt keine Rolle) physikalisch interpretiert werden soll. Hier muß man nämlich von der Abstraktion der Zahlen wieder in die Realität der Objekte und ihrer Bewegungen zurückreifizieren. Und hier läuft man Gefahr, Konzepte oder bloße Hilfsgrößen der Mathematik (wie z. B. Energie) irrationalerweise zu verdinglichen.

Du hast es ja im Grunde schon richtig gesagt:

Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass absurde Konsequenzen eher darauf abzielen, dass man [...] die Formeln falsch, d. h. auf unpassende Sachverhalte, angewendet hat.

Und daß man überhaupt neue Sachverhalte (Achtung: "Sachverhalt" = "Bewegung/Interaktion von Objekten") für die mathematische Beschreibung erschafft.


Mathematische Formeln und Verhältnisbestimmungen haben ihren Platz in der Physik, insbesondere für die technische Anwendung.

In der Physik zur Beschreibung von dynamischen Konzepten, in der Technik (dem Ingenieurswesen) für die mechanische Anwendung. Wissenschaft und Technik sind nicht dasselbe.

Das Verhältnis ist also das: Physik ist die Erklärung der logischen Zusammenhänge von beobachteten Phänomenen von Objekten, wobei die Verhältnisse durchaus als quantitative Verhältnisse dargestellt werden können, ihre Erklärung aber nicht mathematisch dargestellt werden kann.

Wenn wir hier für "Phänomene von Objekten" besser "Bewegungen von Objekten" (das sind Phänomene) setzen und das Ganze irgendwie prägnant in wenigen Worten ausdrücken könnten, würde ich es mir auf ein T-Shirt drucken lassen. Sehr gut.

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JayEl, wir müßten eigentlich grundlegend einmal definieren, was (physikalische) Beschreibungen und (physikalische) Erklärungen sind, wie sie im Verhältnis zueinander stehen. Ideen?

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JayEl
Gelöschter Benutzer

Re: Sinn und Unsinn von Mathematik in der Naturwissenschaft / Physik

von JayEl am 26.02.2012 22:39

Ich stimme mit allem, was du geschrieben hast, überein. Zu zwei Dingen möchte ich kurz noch etwas sagen:

1. Physik, Mathematik und technische Anwendung

Ich schrieb:

Mathematische Formeln und Verhältnisbestimmungen haben ihren Platz in der Physik, insbesondere für die technische Anwendung.

und damit habe ich gemeint:

"Mathematische Formeln und Verhältnisbestimmungen haben ihren Platz in der Physik, insbesondere als Grundlage für die technische Anwendung."

Ich denke, es war also ein Missverständnis, was durch meine falsche Formulierung ausgelöst wurde. Denn ich stimme deiner Kritik zu.

2. Phänomene = Bewegung von Objekten

Ich würde meinen Satz jetzt so korrigieren:
Das Verhältnis ist also das: Physik ist die Erklärung der logischen Zusammenhänge von beobachteten Phänomenen, wobei die Verhältnisse durchaus als quantitative Verhältnisse dargestellt werden können, ihre Erklärung aber nicht mathematisch dargestellt werden kann.

Dass Phänomene Bewegungen von Objekten sind, stimmt. Allerdings halte ich das nicht für eine offensichtliche Tatsache oder eine der Theoriebildung vorausgesetzte Weltsicht, sondern für ein Resultat wissenschaftlicher Erkenntnis. Daher habe ich von Phänomen gesprochen. Den seltsamen Ausdruck "Phänomene von Objekten" habe ich gewählt, weil ich darauf aufmerksam machen wollte, dass es die Objekte und ihre Bewegungen sind, die von der Physik untersucht werden. Ich meine damit folgendes: Man kann beobachten, dass Äpfel vom Baum herunterfallen. Aber man sieht nicht (und weiß bislang nicht), welche Objekte dafür verantwortlich sind.

Zu dem Unterschied von Beschreibung und Erklärung habe ich aus meiner Sicht alles Nötige geschrieben. Wenn man es ganz genau wissen will, muss man Hegel studieren. Seine Wissenschaft der Logik ist da erhellend, wenn man sie als Wissenschaft, die die Logik des Denkens ("Dialektik") erklärt, ernst nimmt und nicht - wie viele Linke und Weltanschauungsmarxisten - als Methode des Denkens vergewaltigt.

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